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| Roland Stechers Kernfarbensystem Zwischen Künstlerbuch und Farbsystem
Solange die Farben der Objektwelt verhaftet sind, können wir sie wahrnehmen und ihre Gesetzmäßigkeiten erkennen. Ihr innerstes Wesen bleibt unserem Verstand verborgen und kann nur intuitiv erfasst werden.
(Johannes Itten, Kunst der Farbe)
Was für eine vermessene Idee, ein neues Farbensystem zu entwickeln! Haben nicht schon die klugsten Köpfe, die kreativsten Künstler, die namhaftesten Naturwissenschafter, die intelligentesten Psychologen, ja sogar die mächtigsten Lobbies der Farbenindustrie versucht, die Welt der Farben zu ergründen? Ebenso vielfältig wie die Ansätze zur Erfindung einer absolut gültigen Farbenlehre sind die Motivationen, sich überhaupt mit dem Phänomen Farbe zu beschäftigen und die Methoden, sich diesem utopischen Ziel zu nähern. Newton setzte auf das Experiment, Goethe versuchte es über Empfindungen, Helmholtz durch mathematische Berechnungen, Itten wiederum warf seine künstlerische Sensibilität und jahrelange Erfahrung als Kunstvermittler in die Waagschale, um die Kunst der Farbe zu entwickeln... Die Fortsetzung dieser Liste würde eines zeigen: Farbe ist, abgesehen von ihren rein technischen Aspekten, ein umfassendes und komplexes kulturgeschichtliches Phänomen, das unser Leben auf unterschiedlichste Art und Weise berührt. So sehr, daß die Allgegenwart und das Überangebot von Farben im Alltag bisweilen zu einem Delirium (Renate Feurle) oder gar zur Chromophobie (David Batchelor) führen kann.
Roland Stecher geht es in seinem neuen Kernfarben-System jedoch nicht um den letzten Beweis, um ein definitives System aller Systeme. Er versucht darin vielmehr, ein auf den menschlichen Empfindungen beruhendes Ordnungssystem von Farben zu definieren, das die Möglichkeiten ihrer technischen Reproduzierbarkeit verbessert. Dabei verbindet er den Impuls des Künstlers mit dem Perfektionsanspruch des Gestalters. Seit Jahren arbeitet Roland Stecher an ganzheitlichen Grammatiken und konkreten Lösungen von Gestaltungsfragen. In bester Tradition des Bauhauses entwickelt er immer wieder Formensprachen und Modelle, die seinen künstlerischen Impetus mit reflexiver Distanz und praktischer Anwendung in Gleichklang bringen. Die Beschäftigung mit der Königsdisziplin Farbe war immer schon in Leitmotiv in seiner Arbeit und die Ausformulierung eines eigenen Systems nur eine Frage von Zeit. Der Impuls zur Entwicklung des Kernfarben-Systems entstand aus einer permanenten Kollision von Kräften: auf der einen Seite die Faszination für das Eigenleben der Farben, ihre schier unerschöpflichen Möglichkeiten in der künstlerischen Anwendung, ihre Auswirkungen auf die Psych des Menschen und auf der anderen Seite die wiederholte Enttäuschung über drucktechnische Limits und industrielle Normierungen der natürlichen Farbpalette.
1967 notierte Johannes Itten in sein Tagebuch: So wie ein Wort erst im Zusammenhang mit anderen Worten seine eindeutige Bedeutung erhält, genauso erhalten die einzelnen Farben erst im Zusammenhang mit anderen Farben ihren eindeutigen Ausdruck und genauen Sinn. Dieses Prinzip der vergleichenden Phänomenologie kam auch bei der Entwicklung des Kernfarben-Systems zur Anwendung. Zunächst malte Roland Stecher in ein großes Künstlerbuch fortlaufend alle erdenklichen Farbkombinationen und Farbmischungen. Intuitiv und experimentell wurden Farben zueinander in Bezug gesetzt, Konstellationen hergestellt und verschoben, Mischungen erprobt und wieder verworfen. Dabei ging es immer auch um sprachliche Verbindungen und um Benennungen von Empfindungen, die bei der Betrachtung von Farben entstehen. Bekannte Muster aus der klassischen Farbpsychologie oder von ganzheitlichen Heilmethoden der Medizin spielten ebenso eine Rolle wie freie Assoziationen und Metaphern aus der eigenen Gefühlswelt. Parallel dazu wurden vorhandene Farbenlehren und historische Positionen kritisch überprüft und hinterfragt. Schließlich erfolgte die Systematisierung in einem Modell und die praktische Überprüfung der technischen Umsetzungsmöglichkeiten durch Andrucke.
Das Resultat ist eine Grammatik der Farben, die ihre innere und äußere Logik zwar in einem System festschreibt, aber Interpretationsspielräume zulässt. Es verhält sich wie die Kompositionslehre zur Interpretation eines Musikstückes oder die Grammatik zur Poesie der Sprache. Im Mittelpunkt steht nicht die Absolutsetzung oder Alleingültigkeit des Systems, sondern die präzise Beschreibung des Interpretationsinstruments. In diesem Sinne versucht Roland Stecher mit dem vorliegenden Buch eine kleine Quadratur des Kreises, nämlich nicht nur ein neues Farbensystem zu erfinden, sondern es auch sprachlich zu benennen und drucktechnisch zu demonstrieren. Das Kernfarben-System ist Ausdruck einer Utopie und Angebot zur Verbesserung des Bestehenden zugleich, oder, um es mit Robert Musil auszudrücken, eine Brücke zwischen Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn. Für eine solche Verbindung neben der Systematisierung auch Intuition. Denn selbst wenn das innerste Wesen der Farben unserem Verstand verborgen bleibt, die Erkundung ihrer Gesetzmäßigkeiten ist die Voraussetzung für einen freien Umgang mit jeder Grammatik. Das Patent, das Roland Stecher eingereicht hat, ist die logische Konsequenz aus dieser Überlegung. Nun ist es an den anderen, auf das Kernfarben-System zu antworten.
Arno Gisinger, Paris, im November 2006
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