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| "Die Möglichkeit der Wirklichkeit" Im Januar 1840 veröffentlicht der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe einen bemerkenswerten Essay über die Erfindung der Daguerreotypie, in dem er postuliert: "The instrument itself must undoubtedly be regarded as the most important, and perhaps the most extraordinary triumph of modern science."1 Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass der exzentrische Autor fantastischer Kurzgeschichten und sprachkünstlerischer Poesie wenige Monate nach der Bekanntgabe des neuen bildgebenden Verfahrens ein solch weitsichtiges Urteil über die kommende Medienrevolution formulieren kann. Anders als der Naturwissenschafter Dominique François Arago oder der Romancier und Literaturkritiker Jules Janin, die 1839 ihrerseits mit hymnischen Kommentaren zur Daguerreotypie hervorgetreten sind, ist Poe der Poet über jeden Zweifel erhaben, Anhänger eines naiven Wissenschaftspositivismus oder gar Propagandist des französischen Bühnenmalers und Erfinders Louis-Jacques-Mandé Daguerre zu sein. Und genau dies macht seine Thesen so aussergewöhnlich.
Trotz seines ausgeprägten Hanges zum Übernatürlichen verfügt Edgar Allan Poe über ein feines Sensorium für die wissenschaftlichen Errungenschaften seiner Zeit. Wie viele seiner Zeitgenossen vergleicht er die Wirkung der Daguerreotypie zunächst mit der Exaktheit eines Spiegelbildes, erkennt aber deren fundamental neue Ontologie im Vergleich zur Zeichnung oder zu einem gemalten Bild. Nicht zufällig führt er den Beweis für das spezifische Nahverhältnis zwischen Abbild und Abgebildetem im fotogenischen Prozess über die Oberflächenuntersuchung mittels eines Mikroskops: If we examine a work of ordinary art, by means of a powerful microscope, all traces of resemblance to nature will disappear – but the closest scrutiny of the photogenic drawing discloses only a more absolute truth, a more perfect identity of aspect with the thing represented. The variations of shade, and the gradations of both linear and aerial perspective are those of truth itself in the supremeness of its perfection.2
Entscheidend für das hohe Mass an Wahrheitsgehalt in der Fotografie sind nach Poe demnach bildspezifische Eigenschaften wie Lichtverlauf, atmosphärische Perpsektive, Zentralperspektive und zunächst nicht die Gebrauchsweisen des neuen Prozesses. Auf diesen optisch-chemisch begründeten Ansatz werden sich im 20. Jahrhundert nahezu alle Theorien der Fotografie beziehen, die nach dem Noema, dem Wesen des Mediums fragen. Um es semiologisch auszudrücken: Bis hin zum Alltagsgebrauch der Amateurfotografie scheint das eigentliche Spezifikum des fotografischen Abbildes in seiner Indexikalität zu liegen. In der Regel macht sich die sogenannte Dokumentarfotografie diese besondere Referenzialität zunutze, um soziale Wirklichkeiten zu beschreiben und ihre inneren Zusammenhänge sichtbar zu machen. Auch auf der Rezipientenseite besteht in bezug auf die berichtende Fotografie eine hohe Erwartungshaltung: von keinem anderen fotografischen Genre wird mehr Authentizität eingefordert. Wie könnte sie sonst verbindliche Aussagen über die Welt vermitteln und verlässliche visuelle Dokumente für die Zunfunft produzieren? Doch worauf beruht dieses quasi naturgegebene Abhängigkeitsverhältnis und das stille Einvernehmen zwischen Bildproduzenten und Bildrezepienten auf dem Gebiet des Dokumentarischen? Wird hier nicht genuin Kulturelles mit rein Apparativem verwechselt? Um diese Frage beantworten zu können, ist es ratsam, einen Blick auf die Ursprünge des Mediums zu werfen.
Traditionell wird der Ursprungsmythos der Fotografie mit dem Begriff des Realismus in Malerei und Literatur, dem Phänomen der präzisen Wiedergabe eines scheinbar beliebigen, minutiös erfassten Wirklichkeitsausschnittes, in Zusammenhang gebracht. Der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp interpretiert die Erfindungsgeschichte des neuen mechanisch-chemisch produzierenden Mediums kulturell als „Ergebnis einer breiten Bewegung gleichgerichteter Energien in Weltanschauung, Kunst, Wissenschaft und Ökonomie“.3 Die Geburt der Fotografie stellt zweifellos eine kulturgeschichtliche Zäsur dar. Ihre technische Erfindung erscheint retrospektiv wie die endgültige Umsetzung des alten Menschheitstraums, die Natur wirklichkeitsgetreu abzubilden und zu fixieren, oder präziser formuliert, sie sich selbst reproduzieren zu lassen. Für Nicéphore Niépce, den Erfinderkollegen Daguerres und eigentlichen Vater der Fotografie, geht es im Kern darum, die flüchtigen Bilder der Camera obscura festzuhalten. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln und intellektuellen Ausformungen dieser Sehnsucht reichen weit in die Antike zurück - von Platons Höhlengleichnis bis Ovids Narziss-Mythos. Die Fotografie ist also längst erdacht als sie erfunden wird. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass die frühesten Berichte über das neue Medium in einer Art self-fulfilling prophecy jenes Interpretationsmodell begründet haben, in dem sich die indexikalische Natur des fotografischen Bildes mit der aufkommenden Stilform des Realismus zu einer untrennbaren Einheit verbindet.
In dieser Situation beweist Edgar Allan Poe wissenschaftsphilosophische Weitsicht. Im Gegensatz zu anderen, fotografisch weit kundigeren Autoren prophezeit er dem Medium jenen Erfolg, den er selbst nicht mehr erleben sollte, ohne die Fotografie auf ihren reinen Abbildcharakter zu reduzieren: It is a theorem almost demonstrated, that the consequences of any new scientific invention will, at the present day exceed, by very much, the wildest expectations of the most imaginative. Mit anderen Worten und frei nach Robert Musils poetologischem Prinzip: Was die Gebrauchsweisen der Fotografie anlangt, denkt Poe als Literat neben dem Wirklichkeitssinn immer auch den Möglichkeitssinn mit. Neben der Welt der Tatsachen gibt es auch jene der Vorstellungen. Erst der Figur des modernen Fotokünstlers wird es gelingen, die Deckungsgleichheit von Realismus als Abbildungseigenschaft und Realismus als Stilform wieder aufzubrechen. Walker Evans Diktum vom documentary style, das an die Stelle des fotografischen Dokuments den Dokumentarstil setzt, verweist auf eben dieses Dilemma. Seit Walker Evans ist das Dokumentarische mehr eine Angelegenheit der künstlerischen Haltung und der Gebrauchsweisen denn eine Frage der Technik. Was zuvor als rein apparativ bedingt galt, wird bei ihm zu einer Frage der Haltung.4
Betrachtet man die internationalen Entwicklungen in der Dokumentarfotografie, und im speziellen die Preisträger der Wüstenrot-Stiftung, so wird deutlich, mit welcher Selbstverständlichkeit die zeitgenössische Fotografie diese Position der Moderne internalisiert hat. Die Einschätzung, die Ute Eskildsen bereits im ersten Katalog der Preisträger 1994/95 formulierte, nämlich „dass jene Arbeiten besonders überzeugten, die am deutlichsten eine persönliche Haltung zum Gegenstand formulierten“, hat sich bestätigt. Die Dokumentarfotografie ist mehr denn je eine Frage des Standpunktes und der Weltsicht, selbst und gerade in jenen Arbeiten, die mit dem Dokumentarstil operieren. Das vergangene Jahrzehnt war geprägt durch den tiefgreifendsten technischen Umbruch seit der Erfindung der Fotografie. Die endgültige Durchsetzung des Digitalen und der damit einhergehende Kollaps der analogen fotografischen Bildproduktion hat dem dokumentarischen Ansatz jedoch nichts anhaben können. Im Gegenteil: Nach einigen heilsamen Debatten um die vermeintliche Authentizität des analogen Bildes scheint heute mehr denn je klar zu sein, dass das fotografische Paradigma gegenüber technischen Revolutionen vergleichsweise resistent ist. So wie im übrigen das Aussterben der Daguerreotypie nicht das Ende der Fotografie bedeutete.
Sieht man das Dokumentarische im Fotografischen weniger aus einer technischen als vielmehr aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive, so stellt sich aber auch und gerade die Frage der Rezeption. Kein Bild ohne Betrachter, keine Botschaft ohne Rezipient. Folgerichtig setzt sich die Suche nach dem Wahrheitsgehalt in der Wahrnehmung des Rezipienten fort. Im folgenden inneren Monolog formuliert der Privatgelehrte Franz-Josef Murau seine Kritik an der Erfindung der Fotografie und seine skeptische Haltung gegenüber der natürlichen Darstellung in der Fotografie: Der Erfinder der fotografischen Kunst ist der Erfinder der menschenfeindlichsten aller Künste. Ihm verdanken wir die endgültige Verzerrung der Natur und des in ihr existierenden Menschen zu ihrer und seiner perversen Fratze. Ich habe noch auf keiner Fotografie einen natürlichen und das heißt, einen wahren und wirklichen Menschen gesehen, wie ich noch auf keiner Fotografie eine wahre und wirkliche Natur gesehen habe. Die Fotografie ist das größte Unglück des 20. Jahrhunderts.5
Von Edgar Allan Poes absolute truth sind wir unvermittelt im anderen Extrem gelandet: das Wahre und das Wirkliche als fundamentaler Widerspruch zur Fotografie? Der hier spricht, man erkennt ihn am Stilmittel der Übertreibung, ist Thomas Bernhards Hauptfigur in seinem programmatischen Roman Auslöschung. Ein Zerfall aus dem Jahr 1988. Ein Telegramm, das Franz-Josef Murau über den Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders informiert sowie drei banale Familienfotografien genügen, um eine Tirade von fast 700 Seiten über ein, wie könnte es bei Thomas Bernhard anders sein, verhasstes Familiengeflecht in der engen österreichischen Provinz auszulösen. Es ist kein Zufall, dass der Schriftsteller den erzählerischen Kunstgriff der Fotografiebetrachtung als Auslöser für den Bewusstseinsstrom der Erinnerung wählt. Er schreibt dem Medium damit literarisch jene Eigenschaft zu, die vor ihm viele Autoren fasziniert hat: die Fähigkeit der Fotografie, Wirklichkeit auf eine ganz spezifische Art und Weise festzuhalten. Thomas Bernhard weiss genau, wie sehr wir geneigt sind, den einfachsten Schnappschüssen aufgrund ihrer indexikalischen Eigenschaft Authentizität zuzuschreiben, wie gerne wir sie für wirklichkeitsbezeugende Abbilder der Realität halten. Er weiss aber ebenso genau, wie sehr fotografische Produkte mediale Konstrukte sind. Und er stellt die Idee vom wirklichkeitsgetreuen Abbild durch das Mittel der negativen Übertreibungskunst sozusagen vom Kopf auf die Füsse.
Fotografien sind für Franz-Josef Murau zwar Erinnerungsspeicher, aber ihre wirkliche Bedeutung gewinnen sie nicht durch ihre Abbildfunktion, sondern durch die subjektive Interpretation und Deutung im Przess der Betrachtung: "Bei der Betrachtung von Fotografien hat es mich immer wie bei nichts sonst geekelt. Aber, sagte ich mir jetzt, so verzerrt die Eltern und mein Bruder auf diesen einzigen von mir gemachten Fotografien mit dem meinem Bruder gehörenden Fotoapparat sind, sie zeigen, je länger ich sie betrachte, hinter der Perversität und der Verzerrung doch die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser sozusagen Abfotografierten, weil ich mich nicht um die Fotos kümmere und die darauf Dargestellten nicht, wie sie das Foto in seiner gemeinen Verzerrung und Perversität zeigt, sehe, sondern wie ich sie sehe."6 Selbst wenn Franz-Josef Murau jede innere Anteilnahme am Dargestellten verweigert und damit die appellative Funktion der Fotografie grundsätzlich in Frage stellt, so wird in diesem Zitat eines klar: der Bezug zur Wirklichkeit in der Fotografie entsteht letztlich im Kopf Betrachters. Und wenn wir von der Dokumentarfotografie Haltung einfordern, so ist damit im Grunde unsere eigene Position gefordert.
Arno Gisinger
Anmerkungen:
1 Edgar Allan Poe, The Daguerreotype, in: Alexander's Weekly Messenger, 15. Januar 1840, zitiert nach Jane M. Rabb (Hg.), Litterature and photography. Interactions 1840 – 1990. A critical anthology, University of New Mexico Press, Albuquerque 1995, S. 4.
2 Ebenda, S. 5.
3 Wolfgang Kemp, Einleitung zur Theorie der Fotografie I, 1839-1912, Schirmer/Mosel 1980, S. 13.
4 Vgl. Dazu Olivier Lugon, Le „style documentaire“ d’August Sander à Walker Evans 1920 – 1945, Macula, Paris 2001.
5 Thomas Bernhard, Auslöschung. Ein Zerfall. Suhrkamp TBS, Frankfurt am Main 1988, S. 29f.
6 Ebenda, S. 30.
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