homeArno Gisinger ist Fotograf und Historiker und lebt in Paris. Er unterrichtet an französischen und österreichischen Hochschulen.
 

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"Uns schmerzt der Grund meiner Augen"
Vielleicht war es einer jener rätselhaften Sätze, die den italienischen Filmemacher Michelangelo Antonioni inspirierten, Julio Cortázars Erzählung Las babas del diablo (Teufelsgeifer) aus dem Jahr 1959 als literarische Vorlage für seinen Film Blow-Up (1966) zu verwenden. Während Cortázars sperrige, dem lateinamerikanischen fantastischen Realismus und dem französischen Nouveau roman verpflichtete Novelle nur literarischen Kennern vorbehalten blieb, gehört Antonionis Meisterwerk längst zu den Kinoklassikern des 20. Jahrhunderts. Blow-Up genießt Kultstatus unter vielen Fotografen und Cinephilen. Feinsinnige Analysen von Filmhistorikern und Medienspezialisten haben so manches Rätsel um den Film gelöst. Die Gründe für seinen überzeitlichen Erfolg scheinen auf der Hand zu liegen: eine unverwechselbare Regiehandschrift, ein schauspielerisches Staraufgebot mit Vanessa Redgrave als mysteriöser Unbekannter und David Hemmings in der Hauptrolle des Fotografen Thomas, eine subtile Kameraführung mit ungewöhnlich langen Fixeinstellungen, der originale Soundtrack von Herbie Hancock mit einem legendären Auftritt der Gruppe The Yardbirds und schließlich eine kriminalistische Rahmenhandlung mit einem vermeintlichen (?) Mord und einem verschwundenen Kadaver.

Der Film, der im Rückblick als zeitgenössische Analyse der gesellschaftlichen Umbrüche im Europa der Nachkriegszeit und als Hommage an die Beat generation im Londoner Underground der 1960er Jahre interpretiert wird, besaß bereits zu seiner Entstehungszeit gesellschaftliche Sprengkraft. 1967 wurde Blow-Up trotz oder gerade wegen seines subversiven Potentials und der für die damalige Zeit freizügigen Bilder bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.


Michelangelo Antonioni oder die Kunst des Bildermachens

Jenseits des Erfolgs bei Publikum und Kritikern ist Antonionis Film aber auch auf einer bildphilosophischen Meta-Ebene zu lesen. Im Wechselspiel zwischen dem cinematografischen (narrativen) und dem fotografischen (stillen) Bild stellt Blow-Up die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis zwischen Realität und Fiktion im Universum der technischen Bilder. Der erzählerische Kunstgriff, mit dem der Regisseur die Zuschauer in ein komplexes Wechselspiel zwischen Bildproduktion und Bildrezeption verwickelt, basiert auf der Identifikationsfigur eines schillernden Fotografen. Thomas, der zu Beginn der Handlung als leicht arroganter angry young man eingeführt wird, besitzt alles, was nach gängigen Klischees einen Starfotografen kennzeichnet: vom Fotostudio mit Loft in London über ein schnittiges Cabriolet bis hin zu attraktiven Frauen, die ihm sprichwörtlich zu Füßen liegen. Neben seiner Tätigkeit als Modefotograf im Studio tritt Thomas auch als eigenständiger Bildautor auf. Er verhandelt mit seinem Verleger über ein Buchprojekt mit sozialkritischem Hintergrund. Neben der Welt des Studios gibt es für ihn also auch die soziale Wirklichkeit draußen. Thomas wird als Figur eines universellen Bildermachers am Puls seiner Zeit stilisiert.

Doch sukzessive verliert er – und wir mit ihm – das Vertrauen in die Allmacht und Beweiskraft fotografischer Bilder. Er glaubt zunächst, durch seine bloße Anwesenheit mit der Kamera einen Mord verhindert zu haben, und später, als er von dessen Existenz überzeugt ist, mittels der Analyse seiner eigenen Fotografien den Tathergang rekonstruieren und dadurch das Verbrechen aufklären zu können. Er tut dies durch mehrfache Vergrößerungen im Glauben an die in jeder Fotografie gespeicherten, aber für das menschliche Auge nicht sichtbaren latenten Bildinformationen. Am Ende landet er beim reinen Korn und nähert sich den abstrakten Action painting-Bildern seines Freundes Bill an. Die aus der Vergrößerung abgeleitete Information wird als eine ins Bild projizierte Interpretation entlarvt. Der Regisseur führt uns den Protagonisten mit fortschreitender Handlung als einen Wilhelm Meister der Fotografie vor, der den Glauben an die indexikalische Ontologie des fotografischen Bildes verliert. Doch Antonioni lässt seinem Helden durch den offenen Schluss einen Funken von Hoffnung und bietet dem Zuschauer gleichzeitig ein neues Interpretationsmodell. Wenn Thomas am Ende des Films die Geräusche einer pantomimischen Tennispartie plötzlich hören kann, den imaginären Ball aufnimmt und ihn mit einem wissenden Lächeln zurückspielt, so kann die Trauer über den Verlust des Authentischen nicht allzu groß sein. Im Gegenteil, der Gedanke vom fotografischen Abbild als visueller Konstruktion hat dann sogar etwas Tröstliches. Gäbe es eine treffendere Metapher für unser ambivalentes Verhältnis zum Medium Fotografie, von dem wir seit seiner Erfindung stets visuelle Selbstversicherung und imaginative Welterfindung zugleich erwarten?

Betrachtet man Blow-Up als fotohistorische Quelle der anderen Art, nämlich als mediales Zeitzeugnis der Bilddiskurse in den 1960er Jahren, so erzählt der Film ein spannendes Stück Fotografiegeschichte. Oder persönlicher formuliert: Nach den Trümmern des Zweiten Weltkrieges und der ideologischen Korrumpierung des Bildermachens im Nationalsozialismus verkörpert ein (Anti-)Held des ausgehenden Neorealismo wie Thomas die ideale Identifikationsfigur für eine neue, junge Fotografengeneration. Als etwa Timm Rautert (geb. 1941) den Film zum ersten Mal im Kino sieht, beginnt er gerade sein Fotografiestudium bei Otto Steinert an der Essener Folkwangschule. Nicht zufällig ist Rauterts Oeuvre seit den Anfängen von einem doppelten Interesse geprägt: die Analyse sozialer Wirklichkeiten (Fotografie als Realitätsbezeugung) und das Bildanalytische (Fotografie als Konstruktion und die Dekonstruktion des fotografischen Instrumentariums) bedeuten bei ihm keinen Widerspruch. Sein künstlerischer Werdegang und die Lehrtätigkeit an der Leipziger HGB seit 1993 nehmen ihren Ausgang in vielen bei Antonioni und Cortázar aufgeworfenen bilddiskursiven Fragestellungen und finden ihren Widerhall in den aktuellen Arbeiten seiner Studierenden.


Julio Cortázar oder die Kunst des Bilderlesens

Unter den vielen Möglichkeiten, das Nichts zu bekämpfen, ist eine der besten, Photographien zu machen, eine Tätigkeit, in der die Kinder frühzeitig unterwiesen werden sollten, da sie Disziplin, Sinn für Schönheit, ein gutes Auge und eine sichere Hand erfordert.

Alle Eigenschaften, die der Erzähler in Teufelsgeifer als die vermeintlichen Ideale des Fotografenhandwerks definiert, werden bei Antonioni durch die harte Schule der Praxis, die dem ungläubigen Thomas die Augen öffnet, ad absurdum geführt. Bei genauem Hinsehen auf die literarische Vorlage lässt sich feststellen, dass bereits Cortázar dieses Regelwerk für den guten Fotografen als ein kulturell eingeübtes, äußerst fragwürdiges Modell ironisch dekonstruiert. Die Hauptfigur ist Roberto Michel, ein Franzose chilenischer Abstammung, seines Zeichens Übersetzer und Amateurfotograf von Niveau. Schauplatz der Handlung ist nicht wie bei Blow-Up das schnelllebige London, sondern die alte Hauptstadt des 19. Jahrhunderts: Paris. Die Topografie der Erzählung trägt mit all ihren literarischen Anspielungen deutlich autobiografische Züge des Autors.

Julio Cortázar, 1914 als Sohn argentinischer Eltern in Brüssel geboren und 1984 in Paris gestorben, lebt nach seiner Ausbildung in Buenos Aires ab 1951 in der französischen Metropole, die ihn zeitlebens fasziniert und literarisch inspiriert. Hier verfasst er die meisten seiner Kurzgeschichten und Romane, wie etwa das 1963 publizierte intellektuelle Kultbuch Rayuela (Himmel und Hölle). Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Cortázar als Übersetzer und überträgt unter anderem Texte von Edgar Allan Poe ins Spanische. Mit dem verfemten Poeten aus den USA verbindet Cortázar nicht nur die Liebe zur Gattung der fantastischen Novelle sondern auch das Interesse für die Fotografie als Interpretationsmodell der Wirklichkeit. Julio Cortázar, von Gisèle Freund 1966 in der Reihe ihrer farbigen Schriftstellerporträts verewigt, bewegt sich in den existentialistisch geprägten intellektuellen Kreisen des Rive gauche und ist ein aufmerksamer Beobachter der fotografischen Produktion seiner Zeit. Er verarbeitet in Roberto Michels Reflexionen und inneren Monologen die beiden damals in Frankreich dominierenden fotografischen Strömungen: zum einen die Philosophie des „entscheidenden Augenblicks“ eines Henri Cartier-Bresson und zum anderen die narrativen Bilder von Autorenfotografen wie Brassai oder Robert Doisneau, die das Pariser Stadtbild und Lebensgefühl der Nachkriegszeit zu einem quasi überzeitlichen fotografischen Topos stilisieren.

Julio Cortázars Erkenntnisinteresse gilt in Teufelsgeifer gleichermaßen dem narrativen Potential fotografischer Bilder wie dem Prozess des Schreibens an sich. Er macht den Leser wie in vielen seiner Texte durch formale Stilgriffe zum Komplizen der Handlung. Roberto Michel erzählt seine Geschichte alternierend aus der Ich- und der Er-Perspektive, so dass „niemand genau weiß, wer da eigentlich erzählt“. Die Handlung ist im Grunde banal, wenn wir sie von ihrem Ende her betrachten: Roberto Michel sitzt in seiner Wohnung in der Rue Monsieur-Le-Prince vor der Schreibmaschine und arbeitet an der französischen Übersetzung komplexer juridischer Texte eines lateinamerikanischen Autors namens José Norberto Allende. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich die Vergrößerung einer Fotografie, die er selbst vor einigen Wochen aufgenommen hat und die ihn nachträglich unvermutet in den Bann zieht, ja ihn zuweilen sogar am Arbeiten (Schreiben) hindert. Nach und nach erfährt der Leser, wenn er nicht gerade durch metafotografische oder metaliterarische Einschübe vom Erzähler (den beiden Erzählern) auf die Folter gespannt wird, was geschehen ist: Bei einem sonntäglichen Ausflug mit der Kamera auf der Île Saint-Louis hat Roberto Michel eine Liebkosungsszene zwischen einer blonden Frau und einem Jugendlichen (mit einem unbekannten Mann im Hintergrund) fotografiert und durch seinen Voyeurismus die seltsame Dreieckskonstellation gestört. Nachdem die Frau bemerkt, dass sie fotografiert wird, fordert sie von Roberto Michel vergeblich die Herausgabe des Films. Von seinen erotischen Fantasien beflügelt, glaubt er, den jungen Mann vor der Verführung durch die blonde Frau, vielleicht sogar vor einem Verbrechen durch den großen Unbekannten gerettet zu haben: “Im Grunde war jenes Photo eine gute Tat gewesen.” (S. 390).

Erst einige Wochen später, als er den besagten Film entwickelt und das Negativ vergrößert, beginnt Roberto Michel dem Ereignis abermals Bedeutung beizumessen. Im Betrachten des großen Prints an der Wand projiziert der Erzähler ein zweites Mal seine eigenen Interpretationen der Wirklichkeit in das Abbild und macht sich dadurch nachträglich zum Betrachter und Protagonisten der eigenen Erzählung. Komplex und spannend wird der Plot durch die unkonventionelle Erzählweise und eine doppelte Zeitlichkeit, die aus der Gegenüberstellung der vergangenen, erzählten Geschichte (die Entstehungsgeschichte der Fotografie) und der Gegenwart der Erzählung (die Betrachtung der vergrößerten Fotografie) entsteht. Die regelmäßigen Einschübe über das Auftauchen von Wolken und Vögeln am Himmel können auf beiden Zeitebenen gelesen werden. Sie beziehen sich sowohl auf den Blick aus dem Fenster als auch auf die Welt des Bildes.

Im ersten Teil der Novelle reflektiert der Leser durch die Kommentare Roberto Michels den Akt des Fotografierens. Die fotografische Apparatur als Aufzeichnungsinstrument, als Realismusmaschine wird quasi analog zur Schreibmaschine in ihrem Verhältnis zur Erzählung dem Phänomen der reinen Beobachtung, dem “Sehen ohne Begrenzung” gegenübergestellt. Im zweiten Teil hingegen geht es um den Akt des Interpretierens. Von einem winzigen Detail ausgehend erzeugt erst die Betrachtung das eigentliche Bild im Kopf und das persönliche Narrativum des Betrachters. Nur das Zusammenspiel von beiden Prozessen, von Bildproduktion und Bildrezeption, wird dem Phänomen des fotografischen Mediums gerecht. Hier ist rund zwei Jahrzehnte vor Roland Barthes Heller Kammer die Idee von Studium und Punctum literarisch vorformuliert. So wie das Schreiben von den erzählerischen Möglichkeiten des Autors abhängt, ist das Bildermachen durch die Gestaltungsmöglichkeiten des Bildautors bedingt.

„Nie wird man wissen, wie das erzählt werden muss, ob in der ersten Person oder in der zweiten, indem man sich der dritten Person des Plurals bedient oder fortwährend Formen erfindet, die sich dann als nicht brauchbar erweisen. Wenn man sagen könnte: ich sahen den Mond aufgehen, oder: uns schmerzt der Grund meiner Augen, und vor allem so: du, die blonde Frau, waren die Wolken, die immer noch vor meinen, deinen, seinen, unseren, euren, ihren Gesichtern dahineilen. Verflixt.“ (S.379)

Dieses Manifest im ersten Absatz des Textes wird für den Leser erst am Ende verständlich, aber dennoch könnte diese Formulierung des produktiven Zweifels über das jeweilige Formenrepertoire des Erzählers auch für den Fotografen und seinen kreativen Schaffensprozess gelten.


Nach Thomas und Roberto Michel oder neue Wege des Fotografischen

Es würde entschieden zu kurz greifen, die in diesem Katalog präsentierten Arbeiten einfach in die Traditionen der in Blow-Up und Teufelsgeifer formulierten Ansätze einzureihen, oder in den Meisterschülern eilfertige Nachfahren von Thomas und Roberto Michel sehen zu wollen. Für die Studierenden von heute sind die beiden stilisierten Protagonisten von damals Ikonen der Fotogeschichte, keine Identifikationsfiguren im klassischen Sinn — deren Lektion aber haben sie zu der ihren gemacht und aus der Analyse des fotografischen Erzählens und den damit einhergehenden Zweifeln haben sie ihr ergiebiges künstlerisches Feld abgesteckt. In der Tat haben sich in der Zeit nach Cortázar und Antonioni Wahrnehmung und Status der Fotografie grundlegend verändert. Um nur zwei Phänomene zu nennen: Auf der einen Seite hat die Konzeptkunst der 1970er Jahre zu einer Öffnung und Neuinterpretation des Mediums geführt, auf der anderen Seite hat der Erfolg auf dem Kunstmarkt und die endgültige institutionelle Etablierung der Fotografie während der beiden letzten Jahrzehnte weitreichende Konsequenzen für Vermittlung und Lehre gehabt.

Wie reagieren nun junge Fotokünstler auf die aktuelle Situation? Selbst wenn die Leipziger Rautert-Klasse mehr eine Schule der Haltungen als eine Schule des Stils ist, so lassen sich im Zusammenspiel der vor aller Augen versammelten individuellen Positionen einige Tendenzen skizzieren.

„Sonderbar, dass die Szene (ein Nichts fast: zwei Menschen verschiedenen Alters) eine geradezu beunruhigende Aura hatte. Ich dachte, dass ich dies hineinlegte und dass mein Photo, wenn ich es machte, die Dinge wieder in ihrer stupiden Wahrheit zeigen würde.“ (385)

Die Skepsis gegenüber der Fotografie als Realitätsbeweis gilt unter der neuen Fotografengeneration als gegeben. Sie gehört zum philosophischen Handgepäck jeder fotografischen Annäherung an die Welt. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, gibt es wieder eine verstärkte Hinwendung zur Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Wirklichkeit. Dies mag mit dem spezifischen Leipziger Kontext und den längst nicht überwundenen Gegensätzen zwischen Ost und West zu tun haben. Aber nicht nur. Wenn Falk Haberkorn und Sven Johne 15 Jahre nach dem Mauerfall eine fotografische Bestandsaufnahme der ehemaligen DDR unternehmen, dann ist dies auch Ausdruck der Betroffenheit gegenüber dem eigenen, in manchen Dingen fremd gewordenen Land. Folglich kommen ihre Antworten nicht im Gewande des alten Fotojournalismus daher. Ja nicht einmal in dem, was man als berichtende oder engagierte Fotografie bezeichnen könnte. Vielmehr geht es um eine neue Form des Dokumentarischen, die das Fiktionale bewusst mit einschließt und statt welterklärender Nähe beobachtende Distanz aufbaut.

Falk Haberkorns S/W Fotografien aus der subjektiven Perspektive des fahrenden Autos erinnern an ein Road movie, bei dem der Protagonist gar nicht erst aussteigt und dem Zuschauer jeglichen Zutritt zu den Objekten seiner Begierde verweigert. Das Automobil, einst Symbol der Reisefreiheit, wird zu einem geschützten Innenraum, der Blick durch die Windschutzscheibe zu einem Filter, zu einem Rahmen für die befremdliche Außenwelt. Sven Johne kombiniert Bilder von abgeernteten Äckern und Feldern mit Narrationen. Diese Gegenbilder zu den versprochenen und erhofften blühenden Landschaften werden von makabren Anekdoten überlagert, die als Symptome für die Grundbefindlichkeit im vertrackten Verhältnis zwischen alten und neuen Bundesländern gelesen werden können. In der Präsentation ihrer Arbeiten integrieren die beiden Fotografen die Funktionsweisen des Bildjournalismus in Form einer collageartigen Wandzeitung, die aus Artikeln von Regionalblättern besteht, die während der Reise gesammelt wurden.

Das Misstrauen gegenüber den Printmedien und dem Bildjournalismus alter Prägung scheint viele Leipziger Arbeiten in die Installation und den Raum der Galerie zu drängen. Doch auch hier werden nicht die alten Muster des White cube übernommen. Das Konzept der Autorengalerie erinnert, wenn auch unter anderen Vorzeichen, an das frühere Modell der Fotografenagenturen, die eine bessere Kontrolle über Gebrauch und Interpretation der Arbeiten garantieren soll. Auch die Arbeiten von Tobias Zielony zeigen die Tendenz zur Distanzierung von den alten Formen der Sozialreportage, wenngleich seine künstlerische Verfahrensweise auf einer gewissen Nähe zu den Porträtierten beruht. In den großen Randsiedlungen verschiedener europäischer Städte fotografiert er vorwiegend bei Nacht Jugendliche, die sich in Gruppen zusammenfinden. Seine Bilder, die auf Intimität und externer Beobachtung zugleich beruhen, lesen sich wie ein Katalog der Körpersprache jugendlicher Außenseiter.

„Immerhin, wenn man sich der mutmaßlichen Verfälschung bewusst ist, wird Beobachten möglich; es genügt vielleicht, zwischen Beobachten und dem Beobachteten genau zu unterscheiden, die Dinge soviel fremder Gewandung zu entblößen.“ (383)

In seinen großen stillen Projektionen lässt Frank Berger die Besucher des Galerieraumes zu heimlichen Beobachtern von Straßenszenen werden. Seine Londoner Impressionen zeigen Variationen des Immergleichen. Es sind Standbilder aus einem beständigen Bilderfluss, die mittels Projektion wieder in Gang gesetzt werden. Das Insistieren auf dem einen Blick verlegt die Aufmerksamkeit vom Fotografen weg hin zum reinen Geschehen. Ähnlich wie Auggie Wren, der in Paul Austers Film Smoke täglich zur selben Zeit dieselbe Straßenkreuzung fotografisch festhält, erzeugt Frank Berger in seiner zeitlich-seriellen Abbildungsweise ein alltägliches Archiv des Urbanen. Im Menschengewühl steht meist eine zentrale Figur, die der Betrachter wie den Protagonisten eines Films zu verfolgen beginnt und die ihn unweigerlich in das Geschehen hereinholt. Vor das Bild als Bild stellt auch Linda Weiss den Betrachter mit ihren Arbeiten über cinematografische Ikonen der amerikanischen Populärkultur. In ihrer jüngsten Videoinstallation insistiert sie in appropriationistischer Tradition auf einer zweiminütigen Schleife aus dem Hollywood-Film Terminator. Die aus Trickbildern bestehende Atomexplosion verweist letztlich nur auf sich selbst und die politische Geste der Künstlerin. Göran Gnaudschun hingegen belichtet Grenzräume. Seine enigmatischen Lichtungen stehen in der Tradition der romantischen Ikonografie. Sie verbinden in der Dunkelheit geblitzte Waldstücke mit Porträts und werfen den Betrachter auf seine eigenen inneren Bilder und Fantasien zurück. Florian Ebners Mann mit der Kamera schließlich ist eine Anspielung auf den gleichnamigen Film von Dziga Vertov aus dem Jahr 1929. Im Gegensatz zu Vertovs allgegenwärtigem Kameramann der Moderne bringt der Protagonist hier die Videokamera gar nicht erst in Gang. Im begleitenden inneren Monolog läuft die in voyeuristischer Attitüde arrangierte Bildfolge jedoch ins Leere. Denn der Betrachter / Leser fragt sich, wer hier eigentlich der Voyeur oder der Schuft ist. Die Wahrheit liegt, wie bei Cortázar, nur auf semantischer Ebene. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität werden verwischt.

„Wenn man doch, da es einmal erzählt werden muss, an der Ecke ein Glas Bier trinken gehen könnte und die Maschine allein weiterschriebe (weil ich mit der Maschine schreibe) – es wäre ideal. Und das ist keine Redensart. Ideal, jawohl, weil die Öffnung hier, von der erzählt werden muss, auch eine Maschine ist (anderer Art, eine Contax 1.2) und eine Maschine von einer anderen Maschine möglicherweise mehr weiß als ich, du, sie – die blonde Frau – und die Wolken.“ (379)

Die Auseinandersetzung mit dem Dispositiv des Fotografischen im Spannungsfeld neuer Bildtechnologien beschäftigt eine Reihe von Leipziger Künstlern. Die maschinenbedingte Bildproduktion ist ebenso Thema wie die Überschreitung der Mediengrenzen hin zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Adrian Sauer bearbeitet in seinen Kompositionen die Schnittstelle zwischen analoger und digitaler Bildwelt. Klassische Fotografien ohne besondere stilistische Markierung stehen am Ausgangspunkt seiner Arbeiten. In mühevoller Kleinarbeit behandelt er mittels Photoshop die Tiefenstrukturen dieser Bilder so lange, bis sie als genuin digital erscheinen. Die Ausbelichtung der Daten auf chemisches Fotopapier schließt den Kreis des Hybriden. Durch seine Verfahrensweise legt der Künstler den Effekt des Fotorealismus sozusagen von seinem digitalen Ende her frei. Der in Island geborene Kristleifur Björnsson arbeitet über die Konstruktion virtueller Bilderwelten und Sehnsüchte im World Wide Web. Er kreiert die Kunstfigur eines Freaks, der in obsessioneller Weise der Anziehungskraft junger Frauen verfällt - ein Thomas der neuen Medien. Über collagenhafte, überlebensgroße Inkjet-Prints holt er seine Freundinnen aus dem aseptischen Reich der Daten in die physische Welt zurück. Das Aufbrechen medialer Grenzen setzt sich auch in den Werken von Alexej Meschtschanow fort. Der mit Skulpturen aus vorgefundenen Möbeln arbeitende Konzeptkünstler erweitert das Spektrum ins Dreidimensionale. Er entzieht den Möbelstücken ihren Gebrauchswert, indem er ihnen funktionslose Krücken verpasst und sie zu reinen Anschauungsobjekten erhöht. Skulptural wirken auch die fotografischen Arbeiten von Stefanie Kiwitt. Mit großer Präzision im Bildausschnitt und einer betont subjektiven Perspektive lenkt sie mit vermeintlich unscheinbaren Schnappschüssen den Blick auf prekäre Behausungen der Großstadt aus Pappkarton oder anonyme Skulpturen des Alltags: ephemere Konstellationen, die an Intensität gewinnen, je länger man sie betrachtet und je intensiver man sich auf ihre Details einlässt.

„Ich glaube, dass mich das fast unmerkliche Zittern der Blätter des Baums nicht beunruhigte, dass ich einen angefangenen Satz weiterschrieb und ihn ganz zu Ende brachte. Gewohnheiten sind wie große Herbarien.“ (390)

Herbarien sind Ausdruck von Klassifikationssystemen, die die Kultur der Neuzeit bestimmen und in deren Dienst sich die Fotografie seit ihrer Erfindung stellt. Die kulturellen Gebrauchsweisen und Bezüge des Mediums zu Wissenschaft und Kunst aufzuzeigen, haben sich Dirk Scheidt und Ulrich Gebert zur Aufgabe gestellt. Wenngleich sich beide mit der Künstlichkeit des Naturbegriffs auseinandersetzen, sind ihre Verfahrensweisen doch unterschiedlich. Während Dirk Scheidt rekonstruierend Natur im Referenzsystem der Kunst, etwa am Beispiel von Monets Seerosen, inszeniert, dekonstruiert Ulrich Gebert in seinem Atlas der Nadelhölzer auf ironische Art und Weise den positivistischen Ordnungssinn der modernen Gesellschaft. Seine Auflistung ungültiger Bezeichnungen demonstriert die Relativität und Historizität unseres Wissens.

„Er pinnte die Vergrößerung an die Wand seines Zimmers, und am ersten Tag betrachtete er sie sich eine Weile und erinnerte sich, verweilte bei dieser vergleichenden melancholischen Tätigkeit des Sich-Erinnerns angesichts der verlorenen Wirklichkeit; eine versteinerte Erinnerung, wie jedes Photo, auf dem nichts fehlt, nicht einmal und vor allem nicht das Nichts, das wahre Fixativ der Szene.“ (389)

Auf den Fotografien in Ricarda Roggans jüngster Serie mit dem Titel Attika fehlt sozusagen alles. Sie fotografiert mit ihrer Großformatkamera leer geräumte Dachböden. Das Nichts als wahres Fixativ verweist paradoxerweise auf Fülle, die übrig bleibende Hülle des Speichers lässt die einstige Akkumulation noch erahnen, und nach der Tabula rasa kann die eigentliche Erinnerungsarbeit beginnen. Mit den Arbeiten von Viktoria Binschtok schließlich könnte unsere im sogenannten Osten begonnene Bilderreise von neuem beginnen. Oder doch nicht? In der Arbeit LVNY verfolgt sie mit ihrer Kamera Passanten in New York, die alle eines gemeinsam haben: Sie tragen Leder-Accessoires der Marke Vuitton. Durch knappe Bildausschnitte anonymisiert, bleiben die Fotografierten jeweils ohne Identität und Geschichte. Der Firmengründer Louis Vuitton entwickelte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Taschen und Koffer für die neuen Reisenden und mobilen Menschen der modernen Metropolen. Heute ist die französische Edelmarke Sinnbild für Luxus und Marken-Chic. Die inflationäre Existenz von Fakes, bei Viktoria Binschtok über eine Sammlung von e-bay-Annoncen verarbeitet, wird von der Firma indirekt für Umsatzsteigerungen genutzt. Welch wunderschöne Metapher für das fotografische Bild. Unendlich reproduzierbar und einzigartig zugleich. Echt oder falsch?

„Doch wenn ich anfange zu fragen, werde ich nichts erzählen; besser erzählen, vielleicht ist Erzählen schon eine Antwort, wenigstens für jemanden, der es liest.“ (380)