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| Ein neuer Blick auf das 19. Jahrhundert
Der Pariser Monat der Fotografie ist mit keinem anderen Fotofestival vergleichbar. Mit über 70 Ausstellungen und den soeben etablierten Verbindungen nach Berlin und Wien ist die Edition 2004 noch umfangreicher als alle bisherigen. Der Expansionsdrang des Festivals seit der Gründung im Jahr 1980 ist seine Schwäche und Stärke zugleich. Dort, wo manche Kritiker Konzeptlosigkeit und fehlendes Gesamtkuratorenprofil bemängeln, sehen andere in der besonderen Bündelung von Kräften die einmalige Gelegenheit, das Medium Fotografie einem grösseren Publikum näher zu bringen.
Die Ausstellungen der einzelnen Veranstalter - Museen und Galerien ebenso wie private und öffentliche Institutionen oder Kulturinstitute - werden von drei Delegierten, die jeweils für eine Epoche zuständig sind, koordiniert. Diese Form der gelenkten Freiheit macht das Festival zu einem ausgezeichneten Seismografen für aktuelle Strömungen in der zeitgenössischen Fotografie, aber auch zu einem Prüfstein für den aktuellen Umgang mit der historischen Dimension des Mediums.
In dieser Hinsicht scheint die Wahl des Gesamtthemas „Geschichte und Geschichten“ für den ersten europäischen Monat der Fotografie geradezu programmatisch zu sein. Jean-Luc Monterosso, logistischer Kopf des Festivals und Gründungsdirektor des Maison européenne de la photographie (MEP) agierte in seiner Ausstellungs- und Ankaufspolitik bereits europäisch - lange bevor es das neue Europa gab. Dass er nun eine qualifizierte Rückschau auf die Geschichte des Mediums als eines der zentralen Themen vorgibt, ist durchaus kein Zufall. Für Monterosso ist es hoch an der Zeit, unkonventionelle Themen der Fotogeschichte aufzugreifen und neue medienspezifische Zugänge anzubieten, um die Fotografie aus der Umklammerung der rein kunsthistorischen Sichtweise zu lösen. Amateurfotografie, angewandte Fotografie, wissenschaftliche, experimentelle oder spiritistische Praktiken sind einige jener ungewöhnlichen Themenfelder, die im Pariser Herbst 2004 zu sehen sind.
Für Denis Canguilhem, den Koordinator der Ausstellungen des Zeitraumes von 1839 bis 1914 haben sich die Betätigungsfelder für Ausstellungsmacher und Fotohistoriker seit einigen Jahren grundsätzlich verschoben. Wurden Ausstellungen früher vielfach nach dem monografischen Prinzip konzipiert, so werden heute Fragen nach den Bedeutungszusammenhängen der Fotografie im Kontext der visuellen Geschichte des 19. Jahrhunderts generell gestellt. Ermöglicht wird dieser andere Blick auf die Fotogeschichte durch eine junge Generation von Wissenschaftern, die erstmals nicht von der Kunstgeschichte oder wie in den deutschsprachigen Ländern oft der Fall von der Vergleichenden Literaturwissenschaft zur Fotografie kommen. In Frankreich gibt es mittlerweile eine Reihe von hochqualifizierten, spezialisierten Fotohistorikern. Der langjährige Vorsprung im Bereich der theoretischen Ausbildung trägt seine Früchte, bringt allerdings nicht nur wissenschaftliches Renommee, sondern auch Existenzängste für all jene mit sich, die notgedrungen ausserhalb des Universitätsbetriebes arbeiten.
Insbesondere im Umfeld der Société française de photographie und deren bemerkenswerter Fachzeitschrift Études photographiques haben sich französische Fotohistoriker einen internationalen Ruf erworben. Die SFP feiert mit einer retrospektiven Ausstellung im MEP ihr 150jähriges Bestehen und holt dafür in Form einer aufwendigen Museografie einige ihrer Glanzstücke aus den Archiven. Im selben Haus findet die Ausstellung Le troisième oeuil. La photographie et l’occulte über spiritistische Fotografie statt. Sie enthält einige ganz besondere Stücke aus der Sammlung von Pierre Apraxine. Wissenschaftlich verantwortlich dafür zeichnen Clément Chéroux und Andreas Fischer, die vor einigen Jahren massgeblich an der Ausstellung „Im Reich der Phantome“ beteiligt waren. Zur Ausstellung mit, die anschliessend ins Metropolitan Museum nach New York wandert, erscheint ein umfangreiches Buch bei Gallimard. Ebenfalls im MEP findet die von Susanne Winkler kuratierte Ausstellung des unlängst vom Wien Museum wiederentdeckten Bestandes an Fotografien von August Stauda statt: Wien in Paris - ein deutliches Zeichen für eine neue europäische Ausstellungspolitik.
Bemerkenswert ist auch die Ausstellungspraxis des bedeutendsten Pariser Museums für das 19. Jahrhundert, des Musée d’Orsay. Seit einigen Jahren finden hier wichtige fotohistorische Ausstellungen statt. Neben einer Retrospektive über Alfred Stieglitz und seinen Kreis (1905 - 1930) sind Experimentalfotografien von Étienne-Jules Marey zu sehen, die durch ihre ästhetische Anmutung verblüffen. Dazu findet eine Tagung über Marey und den wissenschaftlichen Film statt, die Naturwissenschafter mit Fotohistorikern zusammenbringt. Im Maison Victor Hugo gibt es eine kleine, feine Schau über das fotografische Selbstporträt, im Pavillon des Arts ist eine exquisite Auswahl aus dem grossen Fundus der Sammlung Alinari aus Florenz zu sehen und im Maison de l’Amérique latine kuratiert Antoine Lefébure eine Ausstellung über frühe Reisefotografien aus Amazonien. Um exotische Reisebilder des 19. Jahrhunderts geht es bei den Brüdern Imbert und René Denis, zu sehen im Arc de triumphe. Auch im Programm der Galerien spielt die frühe Periode der Fotografie eine wichtige Rolle, bei Baudoin Lebon ebenso wie bei Nicole und Léo Herschtritt. Die Galerie Paviot zeigt in Ergänzung zur Ausstellung über die okkulte Fotografie ebenfalls Fluidalfotografien.
Die eigentliche Lektion in Sachen Blick auf die Fotogeschichte bietet jedoch die ebenso einfache wie bestechende Ausstellung in der Fondation Cartier. Hier wird die legendäre Schau von Manuel Alvarez Bravo, Henri Cartier-Bresson und Walker Evans bei Julian Levy aus dem Jahr 1935 mit Originalabzügen rekonstruiert. Wer die Fotografie des 20. Jahrhunderts verstehen will, sollte diese Zeitreise zurück zur Avantgarde der 1930er Jahre machen, die im Todesjahr von HCB unwillkürlich zu einer Hommage an den französischen Altmeister des entscheidenden Augenblicks wird.
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