homeArno Gisinger ist Fotograf und Historiker und lebt in Paris. Er unterrichtet an französischen und österreichischen Hochschulen.
 

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Nürnberg: Ort der Täter und der Justiz

Arno Gisingers fotografische Auseinandersetzungen modifizieren die traditionelle Annäherung an Orte der Erinnerung, sind die Folge historischer Befragung und künstlerischer Reflexion. Der Fotograf und Historiker beschäftigt sich seit einigen Jahren in Ausstellungen mit Gedächtnisorten, Objekten und Menschen: „Oradour. Messerschmitthalle“ (1995), „Invent arisiert“ (2000) und „Vom Großvater vertrieben, vom Enkel erforscht“ (2002). Die aktuelle Ausstellung, sie besteht aus zwei Teilen (Nürnberg: Kulissen der Macht und Nürnberg: Schauplatz des Prozesses) wurde im November / Dezember 2004 in Paris in den Jardins des Tuileries und in der Ecole d’architecture Paris-Malaquais gezeigt. Für 2005 ist eine Ausstellungstournee und eine Buchpublikation geplant. Das Gespräch mit Arno Gisinger führte Peter Niedermair.

Die Stadt Nürnberg steht in vielfacher Hinsicht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung. Julius Streicher, einer der schlimmsten Judenhasser der Nationalsozialisten gab in Nürnberg sein antisemitisches Hetzblatt „Der Stürmer“ heraus. 1933 erklärte Hitler Nürnberg zur „Stadt der Reichsparteitage“, die bis 1938 jährlich stattfanden. Dafür wurden gigantische Monumentalgebäude zum Teil realisiert, zum Teil geplant und ein „Reichstagsparteigelände“ mit einer Gesamtfläche von über 11 Quadratkilometern ausgebaut. Auf dem Reichsparteitag am 15. September 1935 wurden die „Nürnberger Rassegesetze“ verabschiedet. Schließlich hielten in Nürnberg die alliierten Siegermächte ab 1945 die „Nürnberger Prozesse“ gegen die Hauptverantwortlichen und Eliten des Nationalsozialismus ab. Zeugnisse dieser Geschichte sind die erhalten gebliebenen Ruinen des Reichsparteitagsgeländes. Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ wurde auf diesem Gelände gedreht, Nürnberg war die Kulisse der Macht im Dritten Reich, die nationalsozialistische Propaganda bediente sich hier der Macht der Bilder wie an keinem anderen Ort.

Kultur: Gegen das Phänomen des Wegschauens sind deine Fotografien zu den architektonischen Kulissen der nationalsozialistischen Macht in Nürnberg ein Plädoyer für das Hinschauen, aber etwas anders, als wir es bisher getan haben.

Gisinger: Nach der Beschäftigung mit den Erinnerungsformen an die Opfer von Nationalsozialismus und Shoah war es für mich wichtig, die Täterseite etwas genauer zu betrachten. Auffallend war für mich, dass bis dato keine eigenständigen fotografischen Arbeiten zu den Täterorten entstanden sind. Außerdem wurde ein wichtiger Aspekt der Erinnerungsarbeit außer Acht gelassen, nämlich die Rechtssprechung, bzw. der juristische Umgang mit der Last einer solchen Vergangenheit. Die Nürnberger Prozesse waren in vielfacher Hinsicht, sowohl medial als auch juristisch, zukunftsweisend.

Was könnte der Grund sein, dass dieser Diskurs bisher nicht stattgefunden hat?

Wahrscheinlich hatten wir in den letzten Jahren alle Angst, in diesen Spiegel zu schauen. Die Täterperspektive und der juristische Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 gehen uns gleich viel, wenn nicht mehr an. Es ist einfacher, sich mit den Opferorten zu identifizieren, und leichter, im Nachhinein Mitleid für die Opfer zu bekunden. Gleichzeitig ist die Beschäftigung mit der Masseninszenierung der Nationalsozialisten aus der Sicht des Historikers eine schwierige Frage, weil man schnell in die alte These vom Diktator und seinem verführten Volk zurückfällt, ein Geschichtsbild, das bis in die Siebziger Jahre Gültigkeit hatte. Über den cinematografischen Umweg hat dieses Geschichtsbild heute wieder Konjunktur.

Spielst du auf den Eichinger Film „Der Untergang“ an, den Wim Wenders in der ZEIT vom 21. Oktober 2004 zerreißt? Wenders kritisiert darin auch den Historiker Joachim C. Fest, der 1973 eine große Hitlerbiographie veröffentlicht hatte und Berater des Films war.

Ja, auf diesen Film und auf das Doku-Drama „Speer und Er“ von Heinrich Breloer, das im Frühjahr 2005 im Fernsehen gezeigt wird – mit Tobias Moretti in der Rolle von Hitler. Problematisch an dieser Form des Umgangs mit Geschichte ist für mich, dass historische Foto- und Filmdokumente aus unserem kollektiven Gedächtnis nachgedreht werden, um Authentizität und historische Glaubwürdigkeit zu suggerieren.

Gibt es in deinen Fotografien diese Ambivalenz nicht? Besteht nicht die Gefahr, durch eine Vervielfältigung von Stereotypen (quasi als „langer Arm der Propaganda“) diesen architektonischen „Kulissen der Macht“ zu erliegen? Gibt es so etwas wie den „eigentlichen Zeugen“ (Primo Levi)? Mit welcher Haltung gehst du an Nürnberg heran, was ist dein Standpunkt und lässt sich die Suggestivkraft der NS-Architektur von Albert Speer in Bezug auf Gewalt und Terror überhaupt entschlüsseln?

Meine Haltung ist durchaus zwiespältig. Auf der einen Seite ist die physische Erfahrung der Dimensionen des Reichsparteitagsgeländes wichtig. Andererseits besteht die Gefahr, dieser Inszenierung der Inszenierung visuell zu erliegen. Wenn man mit der Kamera an diesen Orten steht, hat man unweigerlich die Bilder von Leni Riefenstahl im Kopf. Der Fahnenmast in „Triumph des Willens“ ist nicht nur ein Symbol der Herrschaft, sondern wird sprichwörtlich zum Fahrstuhl für die Allmacht der Kamera, die Vogelperspektive zur Herrschaftsposition. Die Orte wurden nicht allein für die Inszenierung der Massen während der Parteitage gebaut, sondern auch für die Bildpropaganda. Ich möchte diese Inszenierungsstrategien freilegen, indem ich sie breche und die Gegenwart in der Vergangenheit zeige. In dieser Hinsicht verstehe ich meine Arbeit als Gegenstatement zur quasi-authentischen Rekonstruktion von Vergangenheit, die derzeit wieder en vogue ist.

Und wie funktioniert das mit den Mitteln der Fotografie? Gibt es quasi ein episches Theater des Bildes im Brecht’schen Sinne?

Tatsächlich arbeite ich mit dem Prinzip „Distanzierung statt Einfühlung“. Die Einfühlung ist für mich weder für die Täter- noch für die Opferorte adäquat. Inhaltlich bedeutet dies viel Recherche-Arbeit im Vorfeld, das Suchen von Kamerastandpunkten, die Analyse von historischen Fotografien und Filmen etc. Formal drückt es sich in einem fotografischen Dokumentarstil aus, der mit den Mitteln von Präzision, Tiefenschärfe, einem bestimmten Licht und den daraus resultierenden Farben arbeitet. Ich versuche, jeweils einen ganz spezifischen Standpunkt einzunehmen und biete dem Betrachter dieses kleine Fenster zur Welt an. Ich stelle Fragen mit Bildern, indem ich vermeintlich hinter der Kamera verschwinde. Die Antworten findet der Betrachter ohnedies selbst.

Nun hängen diese großformatigen Fotografien ja nicht irgendwo, sondern mitten in Paris, an einem der meist frequentierten Plätze, den königlichen Gärten des Louvre, in den Tuilerien. Wie ist es zu diesem Ausstellungsprojekt gekommen?

Ich bin seit meiner Ausbildung in Arles immer wieder künstlerisch in Frankreich tätig und arbeite mit der Pariser Galerie 779 zusammen. Im Rahmen der diesjährigen europäischen Fotobiennale „Mois de la photo“ wurde ich von einer renommierten Architekturhochschule sowie vom „Jeu de paume“, dem neuen französischen Zentrum für Fotografie, eingeladen, das Nürnberg-Projekt erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.

Welche Wirkung entfalten die Bilder an diesem speziellen Ort?

Zunächst reizt mich der öffentliche Raum und die Tatsache, dass die Bilder Wind und Wetter ausgesetzt sind. Die Lichtverhältnisse, und mit ihnen die Wahrnehmung der Fotografien, wechseln ständig. Die Besucher haben freien Zugang zu den Bildern, es gibt keine Schwellen und Hürden wie in einem Museum oder einer Galerie. Dazu kommt die Situierung dieser langgestreckten Mauer an der historischen Herrschaftsachse von Paris.

Welche zeitgeschichtlichen Bezüge gibt es denn dort?

1937 fand auf dieser Achse, am Trocadero, eine Art Weltausstellung statt. In dem von Albert Speer gebauten deutschen Pavillon wurde das gesamte Nürnberger Bauprojekt in Form von Plänen und Modellen vorgestellt. Leni Riefenstahl zeigte hier ihre Filme „Olympia“ und „Triumph des Willens“. Symbolträchtig standen sich der deutsche und der sowjetische Pavillon gegenüber, daneben der spanische mit Picassos „Guernica“, dieser berühmten pazifistischen Ikone.

Welche Wirkung hatte die NS-Architektur auf die damaligen Besucher und worin bestand die eigentliche Faszination?

Historisch gesehen ist es der verzweifelte Versuch einer Appeasement Politik gegenüber Nazideutschland. Im Frankreich der Dreißiger Jahre gab es eine seltsame Bewunderung für die modernistische Architektur ebenso wie für den sportlich-paramilitärischen Körperkult der Nationalsozialisten. Und schließlich gibt es einen zweiten Konnex zu Paris: Im Sommer 1940, nach der Niederlage Frankreichs, machte Hitler einen legendären Besuch in Paris und beschloss unter dem Eindruck der eroberten Stadt, die Bautätigkeit in Nürnberg wieder aufzunehmen.

Was ist aus Nürnberg dann tatsächlich geworden?

Über viele Jahre war Nürnberg eine der größten Baustellen des Dritten Reiches. Das gigantomanische Projekt „Reichsparteitagsgelände“ wurde kriegsbedingt nie fertiggestellt, die Stadt Nürnberg gegen Ende des Krieges in großen Teilen durch alliierte Luftangriffe zerbombt. Und eigentlich war es ein Zufall, dass das Justizgebäude, in dem bereits im Herbst 1945 das Nürnberger Militärtribunal stattfand, verschont geblieben war.

War das mit ein Grund, dass die Nürnberger Prozesse in diesem Gebäude stattfanden? Hatte die Stadt Nürnberg für die Alliierten nicht auch symbolische Bedeutung?

Das Gebäude war geradezu ideal für die Logistik eines Prozesses in dieser Größenordnung. Aber freilich war der Platz auch symbolisch von Bedeutung. Dort, wo die Unrechtsherrschaft begann, wurde Recht gegen die Täter gesprochen. Noch wichtiger aber war, dass Nürnberg in der westlichen Zone lag und unter direkter Kontrolle der West-Alliierten stand ...

... und damit auch die angelsächsische Rechtssprechung angewendet werden konnte. Der Gerichtssaal wurde von den Alliierten für den Prozess umgebaut ...

Das grundlegend Neue an diesem Prozess war, dass visuelle Dokumente als Beweisstücke eingesetzt wurden. Der Raum wurde zeitweilig in einen Kinosaal verwandelt, die NS-Propagandabilder sollten durch die Bilder des Grauens aus den befreiten Lagern gebrochen werden. Richter, Verteidiger und Prozessbeobachter konnten die Reaktionen auf den Gesichtern der Angeklagten beobachten.

Das Bildmaterial wurde zweifach eingesetzt, einmal wurde die Nähe der Angeklagten zum NS-Herrschaftssystem aufgezeigt, so dass niemand mehr sagen konnte, er habe von nichts gewusst ...

... und zusätzlich wurde der gesamte Prozess fotografisch und filmisch aufgezeichnet, um Dokumente für die Zukunft zu schaffen. Nürnberg war in vielerlei Hinsicht der erste Medienprozess, auditiv und visuell. Auditiv durch die erste Simultanübersetzungsanlage, visuell durch den erstmaligen Einsatz von Fotos als Beweisstücken, als Asservate.

Arno, was ist dein Blick auf diesen Nürnberger Gerichtssaal heute, wo stehst du mit deiner Kamera?

Ich, und somit auch der Betrachter des Bildes, befinde mich in der Rolle des Zuschauers, des Beobachters ...

... und was siehst du da und womit assoziiert der Blick des Betrachters?

Ich lenke den Blick auf das Nicht-mehr-Sichtbare, auf die verblassten Spuren, auf das Verschwinden der Vergangenheit, auf die jeweilige gesellschaftlich bedingte Umfunktionierung dieses Ortes. Die historischen Bilder werden im Kopf des Betrachters wie formatierte Folien auf das Bild der Gegenwart gelegt. Im Vergleichen dieser Bilder entsteht in einer Art mapping jenes Spannungsverhältnis, das man Erinnerung nennt.

Eine Gesellschaft, die sich an Vergangenes erinnern will, benötigt nach dem Verblassen der direkten Erinnerung „externe Zwischenspeicher“, in die das kulturelle Gedächtnis zunächst ausgelagert und dann weitergegeben werden kann. Zu diesen „Speichermöglichkeiten“ gehören Fotografien. Welche Rolle spielen diese Bilder als spezifischer Erinnerungsspeicher innerhalb eines breiten sozialen Gedächtnisses, wie werden diese Bilder historisch wirksam und was ist die kulturelle Funktionalisierung von Bildern im Rahmen der „Sozialgeschichte des Erinnerns“?

Für mich ist die Kernfrage: Woran erinnern wir uns - individuell und gesellschaftlich - in der jeweiligen Gegenwart, oder umgekehrt formuliert, warum bleibt der Blick auf bestimmte Fragen verstellt. So ist der Umgang mit den Gedächtnisorten an die Opfer durch die Diskussionen der letzten Jahre einigermaßen differenziert, während wir nur zögerlich beginnen, uns mit den Täterorten auseinander zu setzen.

Ich stelle mir das sehr schwierig vor, die Täterorte sind doch gleichzeitig auch Zuschauerorte, und uns selbst im Spiegel des Hin- und Wegschauens zu erfahren, ist eigentlich das wirklich Schmerzhafte, etwas, das wir kaum ertragen ...

... und gerade deshalb so Notwendige. Was bis dato noch gänzlich fehlt, ist die Thematisierung der Orte der Rechtssprechung als Teil des Erinnerungsprozesses an die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im historischen wie im gegenwärtigen Sinn. In unserer überbordenden Kultur des Erinnerns vergessen wir gerne, dass ein wesentlicher Teil der viel zitierten Aufarbeitung der Vergangenheit in der Rechtssprechung liegt, die doch eigentlich im Kern die ethische Dimension ausmacht. Das gilt nicht nur für Nürnberg, sondern auch für die Genozide der Gegenwart.