| Parlez-moi d’Oradour
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Stilleben, die nicht stillstehen
von Christian Milovanoff
Statt von Menschenrechten sollten wir besser von den Pflichten des Menschen sprechen, und statt von der Pflicht zur Erinnerung besser vom Recht auf Erinnerung. Sonst könnten wir von der Erinnerung nichts erwarten und der Mensch wäre ein amoralisches Wesen ohne irgendwelche Verpflichtungen. Was macht es da schon, wenn diese Formel apodiktisch klingt und nur Dummköpfe zum Lachen bringt. Diese Umkehrung ist in keinster Weise rhetorisch gemeint. Sie bezeichnet lediglich jene ethische Position, die Arno Gisinger vertritt. Eine Grundhaltung, die er seit über zehn Jahren unermüdlich verfolgt, wenn er etwa in einem Bergwerk bei Schwaz (in Österreich) oder in den Ruinen von Oradour-sur-Glane vergessene Geschichten ausgräbt und ans Tageslicht befördert, was die Unmenschen und die Mörder auf ewig für vergraben hielten: das Leben. Sein gesamtes Schaffen wird von diesem Grundgefühl bestimmt. Ermöglicht wird dieses permanente Pendeln zwischen dem Boden der Erinnerung (sprich: dem Vergessen) und der Oberfläche, an der das für immer verloren Geglaubte auftaucht, wider Erwarten da ist und sich in der Selbstverständlichkeit von Bildern zeigt, durch die Fotografie mit den ihr innewohnenden Eigenschaften und Protokollen.
Ein Bild. Und noch eines. 1994. Arno Gisinger wird noch weitere machen. Insgesamt umfasst seine Serie sechzehn Bilder. Ihr Format ist identisch: Quadrate von jeweils 120 cm Seitenlänge, Platten sozusagen, auf denen zunächst seltsame Formen erscheinen: flache Objekte, ohne Tiefe und ohne Schatten, in die Bildoberfläche eingeschrieben oder gedruckt wie bedeutungsvolle Zeichen einer Geschichte.
Sechzehn Bilder also, sechzehn Tafeln, auf denen folgendes zu sehen ist: verbrannte und verrostete Taschenuhren, von denen manche noch an ihren Ketten hängen, alle aber zur selben Zeit stehen geblieben sind, ein verbogener Löffel, weitere Löffel, ein Hund aus bräunlicher Fayence, Scheren und ein Bohrer, Lampenbrenner und Kerzenleuchter, 100 Francs Scheine, ein Zettel, auf dem zu lesen ist: « caissette contenant des pièces de monnaie trouvées dans les granges… » («Kassette mit Geldmünzen, die in den Scheunen gefunden wurden...»), eine Frauenbüste. Andere persönliche oder allgemeine Gebrauchsgegenstände, die nach dem Massaker an den Bewohnern von Oradour-sur-Glane am 10. Juni 1944 bzw. nach dem darauf folgenden Brand gefunden wurden und seit rund 30 Jahren in Schaukästen in Oradour selbst gezeigt werden.
Man kann sich die Haltung des Konservators vorstellen, wie er die tragischen Reliquien mit Behutsamkeit in diese durchsichtigen Sarkophage legt. Man stellt sich seine Ordnungsprinzipien nach bestimmten Kategorien oder die Anordnung der einzelnen Objekte vor, deren Auswahl, Zusammenstellung und Abstände untereinander. Man stellt sich schliesslich seine museografische Arbeit vor, dieses geduldige Verzeichnen der Archivalien, das einhergeht mit der Gefahr ihrer Erstarrung zu leblosen, entwirklichten Dokumenten, die jeglichen zeitlichen Kontinuums einer historischen Abfolge des Lebens entzogen sind.
Nun stellen wir uns eine andere Haltung vor, die umgekehrte Bewegung, nämlich Arno Gisingers fotografische Geste: Sie gibt dem Objekt jene Erinnerung zurück, die eigentlich bestimmend ist. Und dies kann nur durch das Bild geschehen, aber nicht durch irgend ein Bild, nicht durch die Wiedergabe dieser in ihren gläsernen Hüllen gefangenen musealen Archive, sondern in Form eines Palimpsests mit seiner unmittelbaren Wirkung, wenn bewusst Ausgelöschtes oder Verborgenes langsam oder unvermittelt wieder auftaucht.
Die Technik des Fotografen, der sehr enge Bildausschnitt und vor allem die Perspektive, von der aus die Fotografie aufgenommen ist (die Kamera wurde direkt auf die oberste Glasscheibe gelegt), lässt das Bild nicht nur aus dem Blickwinkel der reinen Reproduktion begreifen. Es versteht sich vielmehr als eine dezidierte Reflexion der Archiv-Fotografie. Das Archiv wird verändert, indem es seinen lebendigen Teil, sein Recht auf Erinnerung zurück bekommt.
Ein Bild, und unter ihm das Grauen. Sechzehn Bilder, und unter ihnen, nach mehr oder weniger abgegrenzten, scharfen oder unscharfen Schichten, nach mehr oder weniger unterscheidbaren Straten, alle Verbrechen, alle Brände und alle tragischen Scheunen, die aus diesen fernen und doch sehr nahen Zeiten, aus den Tiefen des Bildes oder seiner Oberfläche auftauchen. Arno Gisingers Fotografien beschreiben dieses Klopfen und Pulsieren der Zeit. Sie bedeuten das Durchqueren all dieser Fetzen, wo sich bei jedem Absatz ein, zwei, drei oder mehr Objekte zeigen und uns entgegentreten. Denn diese grossformatigen, im Abstand von einigen Zentimetern von den Wänden hängenden Bilder lassen Dinge hervortreten: in weiter Entfernung eine Beschriftung, auf der « Argenterie » (Silberbesteck) steht, noch weiter weg, darunter oder dahinter, Erde, darüber oder davor, ein Taschenmesser, etwas näher eine Würfelzuckerzange, noch näher hier eine Gabel, und da, ungefähr sechzig Zentimeter vom Boden entfernt und ganz nahe, ein paar Löffel.
Hier wird die Möglichkeit geboten, diese Schichten zu durchdringen, zum Beispiel die figurativen Elemente eines Tischgedecks, die sich übereinander lagern wie Stilleben, die nicht mehr still leben wollen. Noch simpler: was hier geschaffen wird, ist die Vorstellungskraft, nicht jene vom Horror, der unvorstellbar bleibt, sondern von allen vorangegangenen und abgebrochenen Augenblicken, von allem, was danach kommen wird und im Bild zu sehen ist. Allein diese Bilder zu sehen bedeutet, morgen nicht behaupten zu können, nichts gesehen zu haben. Und von da an ist es wahrscheinlich, dass wir letztlich doch an diese Welt glauben.
Christian Milovanoff, 2004
Aus dem Französischen übertragen von Aaron Singer.
| | Schaufel, Fotografie, 120x120 cm, 1994 (2004). Das Bild stammt aus der Serie "Archéologie" und ist Teil der Ausstellung "Parlez-moi d'Oradour". | |